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Beitrag vom 03.03.2013
Rachel Shneidermann - Charlotte Hermann, Teil 2
Rachel Shneidermann
Um Hintergundinformationen über die Frau zu erhalten, die sie nie vergessen konnte, musste sich die "Writing-Girls"-Teilnehmerin sich nicht nur auf eine Reise, sondern auf eine Odyssee begeben...
.... Die Geschichte einer vielsprachigen Spurensuche in Prag und Dresden.
Um über Charlottes Leben mehr zu erfahren, habe ich mich auf den Weg nach Prag und Dresden gemacht. Ich war zuversichtlich, was die Verständigung in Prag betraf, weil ich überzeugt war, dass die Mehrheit der Tschechen Deutsch oder Russisch sprechen. Aber schon auf dem Busbahnhof bei der Ankunft wurde ich eines Besseren belehrt. Englisch ist die bevorzugte Sprache der Tschechen. Mein Englisch lässt leider zu wünschen übrig. Und so war ich gezwungen, während der vier Tage in Prag vier Sprachen zu sprechen: Deutsch, Russisch, Hebräisch und Englisch. Kein Problem also, man muss nur ein bisschen Chuzpe haben und sich trauen, die Menschen anzusprechen.
Prag ist eine wunderschöne Stadt. Vor zehn, zwölf Jahren war ich schon einmal dort. Einer dieser Ein-Tag-Städtereisen, wo einem im Galopp alle Sehenswürdigkeiten gezeigt werden. Ich war sehr beeindruckt von dieser Stadt, hatte aber nebelhafte Erinnerungen an sie. Und so wollte ich eines Tages zurückkehren und die Stadt besser kennen lernen, ohne Hektik und ohne den Zwang eines festen Touristenprogramms. Diese Gelegenheit bot sich mir jetzt an. Am frühen Morgen des 26. Augusts 2012 setzte ich mich in den Bus Berlin-Dresden-Prag. Der Bus fuhr vom zentralen Busbahnhof Berlin, kurz ZOB, ab. Fünf Stunden später war ich in Prag.
Die Touristeninformation zeigte mir auf dem Stadtplan wo mein Hotel ist und wie ich dahin komme. Dann schnell Geld wechseln und schon stehe ich mit meiner Reisetasche vor dem Busbahnhof und schaue mich um. Erstaunlicherweise fühle ich mich absolut nicht fremd in einer Stadt in der ich praktisch zum ersten Mal bin (ich habe mehr Herzklopfen und Panik, wenn ich mit dem Regionalzug von Berlin nach Brandenburg fahre). Mit Hilfe der zwei Touristen, die Russisch sprechen, finde ich die richtige Haltestelle und fahre los. Meine Sorge, dass ich eventuell meine Haltestelle verpasse, erweist sich als haltlos – in jedem Wagon ist eine elektronische Anzeige angebracht und außerdem wird jede Haltestelle angesagt. Überhaupt bin ich begeistert von den Verkehrsmitteln in Prag – die sind wunderbar konzipiert, so, dass man auch als Fremde ohne Probleme zu Recht kommt. Im Hotel angekommen, lasse ich meine Sachen liegen und gehe die Stadt angucken.
Es ist Sonntag, also kann ich sowieso nicht mit meinen Recherchen anfangen. Die Sonne scheint vom fast blauen Himmel, es ist warm, aber nicht zu heiß. Ich gehe einfach los, sozusagen der Nase nach und stehe plötzlich am Ufer der Moldau. Eine Passantin zeigt mir die Richtung zur Karlsbrücke. Es ist so viel Schönes zu sehen, dass ich mich dauernd in verschiedene Richtungen drehe. Mein Fotoapparat ist ständig im Einsatz. In einer Stadt fasziniert mich am meisten die Architektur. Ich würde am liebsten jedes Gebäude, das in mein Blickfeld fällt, fotografieren. Bin aber leider eine genauso leidenschaftliche wie lausige Fotografin. Prag ist voll schöner Altbauten mit fantasievoll geschnörkelten Fassaden. Jedes Haus ist eine Faszination! Also habe ich viel zu tun und komme nur langsam voran. Je näher ich zur Karlsbrücke komme, desto voller werden die Straßen. Die Karlsbrücke selbst gleicht einer Völkerwanderung, so, dass es mühsam ist durchzukommen. Auf beiden Seiten stehen Händler und Künstler, die ihr Zeugs verkaufen. Alles ist interessant, geschmackvoll, bunt, manchmal kitschig, aber immer fantasievoll und spannend. Es ist alles sehr verlockend, aber ich kann mich beherrschen und bewundere nur die Sachen ohne sie gleich zu kaufen.
Während ich über die Karlsbrücke schlendere, quasi mit offenem Mund, schießt plötzlich ein Gedanke durch meinen Kopf: Wie oft mag Charlotte diesen Weg gegangen sein? Ob sie auch so fasziniert war wie ich von der Stadt? Bestimmt nicht, denke ich. Sie hatte andere Sorgen. In der Verfolgungszeit musste sie überleben. Danach hatte sie mit Folgen der Inhaftierung, Folter und Hunger, der Sorge um ihre Eltern und ihre Großmutter und um ihre Existenz zu kämpfen. Da hat man keine Augen für die Schönheit der Umgebung. Vielleicht war sie aber eine hoffnungslose Romantikerin und diese Stadt, die für Jahrzehnte ihr Zuhause war, begeisterte sie, erfüllte ihr Herz mit Freude, lenkte sie ab von ihren Sorgen, Problemen und Schmerzen, gab ihr Kraft, Kraft weiterzumachen, durchzuhalten, weiterzuleben. Ich weiß es nicht. So gut kannte ich Charlotte nicht und darüber sprachen wir nie. Nach fünf Stunden Fußmarsch komme ich müde und voller Eindrücke ins Hotel zurück (in Berlin bin ich schon nach zwei Stunden erschlagen), lege mir einen Plan für den Morgen zu und gehe schlafen.
Am nächsten Morgen kaufe ich mir im Kiosk eine Tageskarte und fahre als erstes in das jüdisches Viertel – Josefov (Josephsstadt). Trotz der frühen Stunde (es ist kurz nach neun Uhr), sind schon viele Touristen unterwegs. Überall ein Sprachengewirr: Englisch, Deutsch, Hebräisch, Italienisch, Spanisch und so weiter. An jeder Ecke stehen Gruppen und Grüppchen und hören ihren Reisebegleitern zu, die routiniert die Geschichte des Viertels erzählen. Tatsächlich ist es eine geschichtsträchtige Gegend, nur leider habe ich keine Zeit dafür. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen, sage ich zu mir und gehe als erste zur Prager Jüdische Gemeinde in der Maiselova 18, Praha 1. Ich drücke die Türklinke, um rein zu gehen und stelle fest, dass die Tür verschlossen ist. Nanu, denke ich und schaue irritiert auf die Uhr: wann machen sie denn auf? Nicht weit vom Haus entfernt steht ein junger Mann, der wie ein Passant aussieht. Mein geübter Blick erkennt in ihm aber einen Wachmann (solche jungen Männer stehen auch in Berlin vor den jüdischen Einrichtungen). Ich spreche ihn an. Die Verständigung ist fürchterlich – sein Englisch ist nicht besser als meines. Nichtsdestotrotz verstehe ich, dass ich die Gemeinde nicht betreten darf, dass ich dazu einen Termin bräuchte, dass ich nicht mal rein darf um mich zu erkundigen, mit wem ich einen Termin vereinbaren könnte. Nicht mal mein israelischer Pass, den ich hoffnungsvoll aus der Tasche ziehe, hilft mir weiter. Ich rede solange auf den Wachmann ein, bis er endlich rein geht um sich zu erkundigen, wie mir geholfen werden kann. Als er raus kommt, hat er nur einen Zettel mit einer Telefonnummer für mich, ich soll diese Nummer in zwei Stunden anrufen. Es ist die Telefonnummer eines Rabbiners, der mir eventuell helfen könnte. Meine Einwände, dass ich als Touristin kaum Möglichkeiten habe, anzurufen, interessieren ihn herzlich wenig.
Enttäuscht und wütend gehe ich weg. "Das fängt ja gut an", denke ich verzweifelt. In der Prager Gemeinde habe ich gehofft vieles klären zu können. Was soll´s, den Tränen nahe versuche ich es an anderer Stelle. Zum Glück bin ich nicht ganz unvorbereitet nach Prag aufgebrochen. Kurz vor der Reise hat Sharon Adler, die Herausgeberin des Online-Magazins AVIVA-Berlin, für das ich diese Reportage schreibe, eine Verbindung zwischen mir und Katja Schickel, einer Bekannten von ihr, die in der Tschechischen Republik lebt, hergestellt. Frau Schickel sandte mir eine E-Mail mit Namen und Adressen an dessen Türen ich anklopfen und eventuell Hilfe bekommen könnte. An dieser Stelle möchte ich mich ganz herzlich bei ihr bedanken, ihre Hinweise haben mir sehr geholfen. Eine der Adressen war die der Jüdischen Gemeinde, eine Andere von Frau Stepankova vom Institut Terezinske inicitiativy mit Sitz in der Jachymova 3. Zum Glück ist die Jachymova zwei Straßen von der Maiselova entfernt.
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© Rachel Shneiderman. Das Haus, in dem das Institut Terezinske iniciativy seinen Sitz hat, Prag |
Bei dem Haus angekommen, stelle ich erschrocken fest, dass ich eventuell auch hier keinen Einlass bekomme: die Tür ist abgeschlossen und mit einer Klingelanlage versehen.
Nächstes Problem: in welcher Sprache sage ich, was ich möchte und werde ich überhaupt rein gelassen? Ich lege mir einen kurzen Satz in Englisch zurecht und klingele. Erstaunlicherweise werde ich ohne Weiteres eingelassen. Im Haus erklärt mir eine Frau in der Pförtnerloge wo sich das Institut befindet. Das Haus sieht etwas heruntergekommen aus, irgendwie verlassen. Ich bin etwas irritiert, nehme aber meinen ganzen Mut zusammen und fahre mit dem Fahrstuhl in den Zweiten Stock. Ich klopfe an der offen stehende Tür, ein junger Mann kommt mir entgegen.
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© Rachel Shneiderman. Die Straße, in der sich Institut Terezinske iniciativy, Prag, befindet. |
Meine Lektion gelernt, spreche ich ihn gleich Englisch an. Ich frage ihn ob ich Frau Stepankova sprechen könne. Er sagt, sie sei nicht da, eventuell käme sie morgen, aber er wisse es nicht genau. Die Verzweiflung und Enttäuschung stehen mir im Gesicht geschrieben. Er fragt mich ob er mir vielleicht helfen könne. Ich habe nichts zu verlieren und erzähle ihm um was es geht. Er hört mir aufmerksam zu, gibt sich große Mühe mich zu verstehen. Nachdem ich fertig bin, bittet er mich um einen Moment Geduld, geht ins Büro zurück, fragt jemanden etwas und kommt nach einer Weile zurück. Die ganze Zeit stehe ich im halbdunklen Flur und warte geduldig. Er hält in der Hand ein Papier. Darauf steht ein Name, der so ähnlich klingt, wie Charlottes Name nach der Heirat. Auch das Geburtsdatum ist so ähnlich wie Charlottes. Es könnte sie sein. Es steht außerdem eine Personenbeschreibung (in Deutsch und Tschechisch) und Datum, wann diese Person nach Theresienstadt kam.
Ich bedanke mich herzlich bei ihm. Für den Anfang ist das besser als nichts. Bevor ich gehe, händige ich ihm das Schreiben aus, das Frau Adler für mich angefertigt hat, in dem in Kurzform mein Anliegen beschrieben ist und in dem um Mithilfe gebeten wird, mit der Bitte, dieses an Frau Stepankova weiter zu geben. Ich bedaure, dass es hier niemanden gibt der Deutsch oder Russisch spricht. Er schaut mich erstaunt an und sagt, er spräche beide Sprachen. Im Geiste falle ich ihm um den Hals. Er sagt er heißt David Lion, kommt aus Wien, ist achtzehn Jahre alt und heute ist sein erster Tag im Institut als Zivildienstleistender. Wir beschließen, dass er ausführlicher mit seinen Kollegen spricht, vielleicht wissen sie, wo ich noch suchen könnte.
Wir verabreden uns, dass ich in einer Stunde wieder komme.Die nächste Adresse auf meiner Liste ist das Jüdische Museum, auch ein Hinweis von Frau Schickel. Die Adresse des Büros des Museums, das sich Referenzzentrum nennt, ist U Stary Skoly 1.
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© Rachel Shneiderman. Die Straße in der sich das Büro des Jüdischen Museums befindet, Prag |
Nach kurzem Suchen finde ich das Haus. Die nette Dame am Empfang, die natürlich nur Englisch spricht, führt mich zu Jana, einer jungen, rothaarigen Frau.
Nach einigem hin und her, stellen wir fest, dass wir beide Hebräisch sprechen. Halleluja! Wir sind uns sofort sympathisch, aber viel helfen kann sie mir auch nicht. Die Kollegin, die es vielleicht könnte, ist heute nicht da, ob sie morgen kommt, weiß sie nicht, deshalb muss ich morgen wieder kommen. Wenig später treffe ich Jana wieder. Auf dem Weg zum Institut, komme ich an der Gemeinde vorbei und versuche wieder mir Eintritt zu verschaffen. Vergeblich. Das Einzige was man für mich tun kann, ist, dass man eine Mitarbeiterin rausschickt, die etwas Russisch spricht. Sie tut sehr beschäftigt. Ich versuche, ihr auf die Schnelle meine Bitte zu erläutern. Sie schlägt mir vor, eine Anzeige in die Zeitung zu setzen, vielleicht findet sich jemand, der Charlotte kannte.
Ich erkläre ihr, dass Charlotte vor 32 Jahren Prag verlassen hat und seit 26 Jahren nicht mehr am Leben ist. Sie ignoriert was ich sage und wiederholt mehrmals ihren Vorschlag mit der Anzeige. Sie versucht nett zu sein. Ich empfinde es anders. Es geschieht alles mitten auf der Straße. Leute drehen sich nach uns um. Mir ist es unangenehm. Ich gebe auf.
Mittlerweile ist es Mittagzeit und viele Menschen gehen in das Gemeindehaus rein. Unter ihnen ist auch Jana. Wir begrüßen uns wie alte Bekannte. Sie verbringt dort ihre Mittagspause. Abermals enttäuscht, ziehe ich Richtung Institut. Dort treffe ich wieder David. Er gibt mir einen Zettel mit Adresse und Telefonnummer einer Behörde, die mir eventuell weiterhilft. Es ist Narodni Archiv - Volksarchiv. Er sagt mir ausdrücklich, dass es sehr weit ist und ich soll unbedingt dort anrufen, bevor ich mich auf den Weg mache.
Der hat gut reden. Anrufen. Wie soll ich mich denn am Telefon verständigen? Er gibt mir außerdem einen Zettel mit der Beschreibung, wie ich dahin komme und seine Handynummer. Ich verabschiede mich ganz herzlich von ihm und gehe. Ich bin ihm unendlich dankbar für seine Hilfsbereitschaft. Nach einem kleinen Imbiss schlendere ich ziellos durch die Gegend.
Meine To-Do-Liste hat keine Adressen mehr und eigentlich habe ich nichts in Erfahrung gebracht. Ich sehe jetzt ein, dass ich mich übereilt auf den Weg gemacht habe. Ich hätte vor der Reise einen E-Mail Kontakt mit diesen Organisationen herstellen müssen und erst dann fahren. In meinen Überlegungen vertieft komme ich an einem Touristeninformationsbüro vorbei und gehe rein. Ich zeige die Adresse des Narodni Archivs und will wissen wann die Öffnungszeiten sind. Diese sind unter anderem Montag 9 – 16 Uhr und Dienstag 9 – 18 Uhr. Heute ist Montag und es ist kurz nach 14 Uhr. Ich beschließe, hin zu fahren. Ohne vorherigen Anruf. Ich habe Zeit und nichts zu tun. Das Jagdfieber hat mich gepackt. Zuerst nehme ich die Tram 14. Nach einer langen Fahrt steige ich in den Bus 125 Richtung Chodovec. Der Bus fährt ungefähr 10 Minuten, ohne anzuhalten. Ich bin unsicher, ob ich im richtigen Bus sitze, dieser fährt offensichtlich raus aus der Stadt. Ich beschließe an der nächsten Haltestelle auszusteigen und zurück zu fahren, die Zeit wird knapp, das Archiv schließt bald. Der Bus hält endlich an und ich steige aus.
Als ich die Straße überqueren will um wieder zurück zu fahren, sehe ich das Gebäude des Archivs. Es ist ein schöner, moderner Gebäudekomplex. Ich mache ein paar Fotos davon. Es ist ruhig und kein Mensch ist zu sehen. Verdammt, denke ich, vielleicht haben sie schon Feierabend. An der Pforte werde ich von einem älteren Wachmann in blauer Uniform höflich angesprochen. Er spricht natürlich kein Deutsch, aber Englisch auch nicht. Etwas Russisch könne er, sagt er. Ich erzähle ihm die Geschichte in Russisch. Er bittet mich um meinen Ausweis, trägt mich in einem Heft ein und bittet mich ihm zu folgen. Das Haus ist auch im Inneren sehr schön. Im Foyer plätschert ein Springbrunnen und es ist auch hier sehr ruhig, und niemand zu sehen. Die Flure sind notbeleuchtet. Er klopft an einer Tür und erklärt der Dame die sich im Raum befindet etwas auf Tschechisch. Sie begrüßt mich freundlich und sagt, sie spräche ein wenig Russisch und Deutsch, ich soll ihr mein Anliegen schildern. Ich erzähle meine Geschichte, zum wiederholten Mal an diesem Tag, und überreiche ihr das Schreiben, das Frau Adler mir mitgegeben hat.
Sie sagt, dass im August alle Behörden in Prag geschlossen sind, so auch Narodni Archiv (jetzt verstehe ich die Notbeleuchtung, die Ruhe und die leeren Flure). Ob ich im September wiederkommen könne, fragt sie. Mein Herz schlägt heftig irgendwo in der Magengegend. Ich sage leise, dass ich nur noch zwei Tage in Prag bin und am Mittwochabend wieder abreise. Ich fühle mich so, als ob ich durstig vor dem Brunnen stehe und nichts habe um Wasser zu schöpfen um meinen Durst zu löschen. Sie sieht es mir an, überlegt kurz und fragt, ob ich morgen um 14 Uhr wieder hier sein kann, sie würde versuchen die Akten zu finden, die Charlotte betreffen.
"Natürlich", sage ich,
"ich komme, wann Sie wollen." Wir verabschieden uns und ich gehe, nein, ich schwebe heraus. Vor lauter Glück vergesse ich beinahe mich auszutragen und meinen Pass mitzunehmen. Aber der nette Wachmann erinnert mich daran. Ich bedanke mich auch bei ihm ganz herzlich und gehe zur Haltestelle.
Es ist kurz vor 16 Uhr. Ich bin überglücklich. Nur gut, dass ich persönlich gekommen bin, denke ich und bin stolz auf mich. Und was für ein Glück, dass ich David getroffen habe und diese hilfsbereite, vollkommen unbürokratische, verständnisvolle Frau. Ich schaue auf die Visitenkarte um mir ihren Namen zu merken. Sie heißt Vlasta Mestankova und ist die Leiterin der Abteilung Forschung und Recherche. Zufall? Vorsehung? Wer weiß das schon.
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© Rachel Shneiderman. Das Narodni Archiv, Prag |
Bevor ich ins Hotel fahre mache ich eine Runde mit der Tram um mir die Gegend anzuschauen und esse Unterwegs eine Kleinigkeit. Müde, aber sehr Zufrieden gehe ich ins Bett.
Am nächsten Tag fahre ich als erstes ins
Jüdische Museum. Ich freue mich, Jana zu sehen. Sie ist sehr hilfsbereit und liebenswürdig. Leider ist die zuständige Mitarbeiterin auch heute nicht da. Jana versucht irgendetwas für mich zu tun und findet im Internet einen Eintrag über Charlottes Mutter. Darin steht, außer Name und Geburtsdatum, noch die Adresse und wann und wohin sie von der Gestapo abgeholt wurde. Ich möchte gerne zu der Adresse fahren, mir das Haus und die Gegend anschauen, ein paar Fotos machen. Immerhin ist es möglich, dass Charlotte in diesem Haus, bis zu ihre Inhaftierung, gewohnt hat. Jana zeigt mir auf dem großen Stadtplan (meiner ist nur für Touristen gedacht), wo die Straße ist und schreibt mir auf, wie ich dahin komme. Sie sagt außerdem, dass es dort einen Jüdischen Friedhof gibt, der sehenswürdig ist. Bevor ich mich von Jana verabschiede, frage ich sie, was der Grund für die Verschlossenheit der Jüdischen Gemeinde ist – es wurmt mich immer noch, dass ich dort nichts erreicht habe. Sie lächelt verlegen und zuckt mit den Schultern. Sie kann oder will nichts dazu sagen. Stattdessen sagt sie mir, sie wäre vor einigen Jahren in Berlin gewesen und wollte sich die Synagoge in der Joachimsthaler Straße ansehen und wurde auch nicht rein gelassen. Ich belasse es dabei. Schließlich kann Jana nichts dafür. Ich verabschiede mich von ihr
und fahre los zu dem Haus, in dem Charlotte eventuell gelebt hat.
Der Weg ist sehr weit. Ich nehme zuerst die Metro, dann die Tram und dann laufe ich ein ganzes Stück bis ich das Haus finde. Auf dem Weg dahin komme ich vorbei am Jüdischen Friedhof. Vielleicht war es früher eine jüdische Gegend? Die Pforte sieht tatsächlich sehr hübsch aus, aber ich habe keine Zeit, rein zu gehen. Ich muss das Haus finden und ich muss um 14 Uhr im
Narodni Archiv sein. Die Entfernung zwischen den beiden Adressen ist enorm. Also beeile ich mich. Die Gegend ist nicht so schön wie im Zentrum, die Häuser sind nicht so prächtig. Keine Schnörkel an den Fassaden, keine schönen Eingangstüren oder hohe Fenster. Einfache, solide gebaute Hochhäuser für die Mittelschicht. Ich finde das Haus: es ist ein Eckhaus in der
Kalicki 8, Praha VIII. Ich frage mich, ob das noch dasselbe Haus ist, das vor dem Krieg hier stand oder wurde es im Krieg zerstört und wieder aufgebaut. Später wird mir Frau Mestankova erzählen, dass Prag kaum bombardiert wurde, deshalb gibt es auch so viele Altbauten. Auch dieses Haus ist noch dasselbe in dem Charlotte und ihre Eltern zuletzt gewohnt haben.
Es ist eine verhältnismäßig breite Straße, die Häuser sehen aus, als ob sie einen Anstrich vertragen könnten. Es ist sehr ruhig, und obwohl es mitten am Tag ist, ist die Straße vollkommen leer. Es entsteht das Gefühl, dass die Bewohner eine Siesta machen würden. Ich mache ein paar Fotos vom Haus und von der Straße. Danach bleibe ich kurz vor dem Haus stehen und versuche mir vorzustellen wie Charlotte und ihre Eltern sich gefühlt haben, was in ihnen vorging, die Angst und die Verzweiflung, die sie hatten als sie abgeholt wurden.
Ich versuche, mir vorzustellen, wie sie durch die Straße geschleppt, geschubst und angeschrieen wurden. Es gelingt mir nicht. G-tt sei Dank. Ich verlasse diese trostlose Gegend und fahre zum Narodni Archiv. Punkt 14 Uhr klopfe ich an der Bürotür von Frau Mestankova. Sie führt mich in einen großen Raum, wo auf einem der Tische einige Mappen liegen.
Es sind die Mappen von Charlotte, ihrer Mutter, ihrem Vater und ihrem ersten Ehemanns. Auf dem Weg zum Archiv habe ich mich gefragt, was mich dort erwartet. Ich hatte keine Vorstellung und ich zerbrach mir nicht den Kopf darüber. Vielleicht kriege ich ein paar Namen, Daten und Orte oder so was Ähnliches. Auf mehr habe ich gar nicht gehofft.
Die Realität sprengt alle meine Erwartungen. Wir setzen uns hin und fangen mit der Mappe des Vaters an. Blatt für Blatt, Dokument für Dokument geht Frau Mestankova mit mir durch. Sie liest es vor und übersetzt es gleichzeitig ins Deutsche. Die meisten Dokumente sind handgeschrieben. Und das nicht mal deutlich. Sie erzählt mir nicht nur was im Dokument steht, sondern erklärt auch die Hintergründe und beantwortet mir meine zahlreichen Fragen zu unterschiedlichen Themen, die diese Zeit betreffen. Ich mache mir eifrig Notizen. Es ist sonst nicht möglich, alles in Erinnerung zu behalten. Ich weiß nicht wer von uns das Thema kopieren zuerst erwähnt. Ich glaube es ist Frau Mestankova. Ich greife es dankbar auf. Natürlich will ich nicht alle Dokumente kopiert haben, nur die, die ich für wichtig bzw. interessant halte. Und so geht es von Mappe zu Mappe weiter. Kurz vor 18 Uhr sind wir fast fertig. Die von mir ausgesuchten Dokumente müssen nur noch kopiert werden. Punkt 18 Uhr verabschiedeten wir uns. Mir fehlen die Worte um meine Dankbarkeit zu äußern. Die fehlen mir heute noch. Ein einfaches Dankeschön scheint mir absolut nicht auszureichen. Ich weiß nur definitiv, dass ohne diese Dokumente, ohne die Erklärungen, die ich dazu erhielt, würde Charlottes Geschichte sehr kurz werden und würde viele offene Fragen aufwerfen. Dank Frau Mestankova ist dies nicht der Fall. Und dafür ist mein allerherzlichster Dank an sie.
Das war eindeutig ein erfolgreicher Tag. Ich habe eine ganze Menge erfahren. Vieles wurde mir klar, was ich vorher nicht verstanden habe, wieso zum Beispiel der Vater auf einem englischen Schiff war, als dieses unterging.
Mit einem unbeschreiblichen Gefühl des Erfolgs verlasse ich das Archiv. Erst viel zu spät, als ich am nächsten Abend in dem Bus nach Dresden sitze und die letzten Tage Revue passieren lasse, wird mir klar, dass ich nur über die Zeit bis Charlottes Verhaftung Informationen habe. Alles was nach dem Krieg war, fehlt mir. Ich war so überwältigt von meinem Erfolg im Narodni Archiv, dass ich erst gar nicht auf die Idee kam, dass ich noch mehr in Erfahrung hätte bringen können. Meine Begeisterung über den Erfolg verflüchtigt sich, ich bin sehr enttäuscht von mir. Es ist eine vertane Chance und ich werde noch lange daran zu knabbern haben. Zu meiner Verteidigung kann ich nur sagen, dass Narodni Archiv Unterlagen bis etwa Ende der 1940er, Anfang der 1950er Jahre hatte. Das heißt, ich hätte andere Archive aufsuchen müssen. Das hätte ich aber nicht an einem halben Tag, der mir verblieben war, geschafft. Ich habe diesen halben Tag mit einem Spaziergang durch Prag verbracht, was ich auch sehr genossen habe.
Am späten Abend bin ich in
Dresden angekommen. Dresden ist auch eine schöne Stadt und es gibt hier auch viel zu sehen. Ich bin aber nicht zum Vergnügen hier. Ich frage mich, was ich erwarte hier zu finden? Charlotte und ihre Familie lebten hier bis 1935. Es ist über75 Jahre her. In dieser Zeit waren der schreckliche Krieg, das Inferno vom Februar 1945 und 40 Jahre DDR. Was kann man jetzt finden? Vielleicht das Haus in dem Charlotte geboren wurde?
Wo fange ich an zu suchen? Was ist die erste Adresse? Natürlich die Jüdische Gemeinde, in der Hoffnung, dass sie freundlicher und offener ist als die Prager Gemeinde. Es regnet, als ich mich am nächsten Tag auf den Weg dorthin mache. Ich werde freundlich an der Pforte empfangen und nach dem ich meine Geschichte erzähle, ruft der Pförtner den Archivar an, der dann zu mir raus kommt. Aus irgendeinem Grund werde ich auch hier nicht rein gebeten. Ein Lob an dieser Stelle an die Jüdische Gemeinde Berlin – hier wird man immer rein gelassen. Soll doch der Besucher sich durch die Abteilungen zu Recht finden.
Der Archivar ist aber hilfsbereit, nur leider kann er mir nicht viel helfen. Er kann mir nicht mal sagen, ob die Familie, bis zu ihre Flucht, Mitglied der Gemeinde war – der größte Teil der Unterlagen ist durch Bomben und Feuer für immer verloren gegangen. Er nimmt das Schreiben von Frau Adler an sich und geht in sein Büro. Nach einer Weile kommt er zurück mit einem Ausdruck aus einem Buch auf dem ein paar Zeilen über Charlottes Vater stehen. Es ist das Buch der Erinnerungen- Juden in Dresden. Außerdem gibt er mir
die Telefonnummer von Lilli Ulbrich, eine der Autorin dieses Buches.
"Vielleicht kann sie Ihnen weiter helfen", sagt er. Bevor ich mich verabschiede, habe ich noch eine Frage, sie ist vielleicht merkwürdig, aber ich muss der Sache nachgehen. Ich erzähle ihm kurz, dass ich in Prag auf eine Reihe Dokumente gestoßen bin, und in einem dieser Dokumente stand, dass Charlotte und ihre Mutter getauft wurden- mit Datum und einer Taufnummer. Ich will vom Archivar wissen, wo ich überprüfen kann, ob das tatsächlich geschehen ist. Er ist der Meinung, dass man so was im Standesamt erfährt. Er gibt mir die Adresse des Standesamtes und verabschiedet sich. Ich fahre zum Standesamt. Es liegt in einer sehr schönen Gegend, so was wie Grunewald in Berlin. Auch das Haus selbst, es ist eine alte Villa, und der kleine Garten drum herum, sind wunderschön.
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© Rachel Shneiderman. Das Standesamt in Dresden |
Drei Frauen sitzen im Garten auf einer Bank, ich habe das Gefühl, dass sie Mitarbeiterinnen des Standesamtes sind und gerade eine Pause machen. Ich spreche sie an. Inzwischen bin ich so routiniert, dass ich die Geschichte mit zwei Sätzen erzähle.
"Sie sind hier falsch", sagt eine.
"wir haben hier im Standesamt keinerlei Unterlagen über Taufen. Sie müssen zu dem kirchlichen Archiv, entweder von der katholischen oder der evangelischen Kirche. In welcher Kirche wurde denn Ihre Bekannte getauft?" "Gute Frage", denke ich und bitte um die Adressen der beiden Archive. Nachdem ich einige Fotos von dem Haus und Garten gemacht habe, gehe ich zurück zur Bushaltestelle.
Auf dem Weg überlege ich mir, zu welchem Archiv ich zuerst gehe: katholisch oder evangelisch. Ich entscheide mich für das evangelische und zwar, weil mir ganz plötzlich ein verrückter Gedanke durch den Kopf schießt: Vielleicht war Charlotte tatsächlich getauft, schließlich liegt sie auf einem evangelischen Friedhof.
Vielleicht hat Eklund mehr gewusst als ich. Was ist noch wahr an der ganzen Geschichte?
Sollte ich vielleicht meine Recherche abbrechen, bevor ich wo möglich Sachen rauskriege, die ich gar nicht wissen will? Ich bin entsetzt und sehr aufgeregt. Ich muss erst mal einen klaren Kopf kriegen. Es ist derweil Mittagszeit. Ich setze mich in ein Cafe, esse eine Kleinigkeit und rufe Frau Ulbrich an. Sie hört meine Geschichte mit großem Interesse an. Kann mir aber leider nichts Neues über die Familie erzählen.
Alles was sie weiß, steht im Buch der Erinnerung:
Simon Herrmann
Geboren: 24.06.1893 in Warschau, 1893 – (?)
Gestorben: -
Wohnung: Görlitzer Str. 67 und 35/I
Vater: -
Mutter: -
Partner: -
Kinder: -
Simon Hermann lebte seit 15.04.1917 in Deutschland und war von Beruf Uhrmacher. Er war verheiratet und hatte ein Kind.
Am 4.03.1933 wurde er unter einem Vorwand zu einer Geldstrafe verurteilt, die ihm auf Grund der sächsischen Amnestie vom 28.04.1933 wieder erlassen wurde. Danach wurde seine Ausweisung verfügt.
Er könnte 1938 mit seiner Frau nach Polen gekommen sein, mehr ist von ihm nicht bekannt.Das ist alles. Eine ganze Familie verschwindet, als ob es sie nie gegeben hat und die Welt geht nicht unter. Auch nicht, als es Millionen Menschen werden.Was die Taufe betrifft, so sagt Frau Ulbrich, dass es möglich sei, dass es eine Fälschung war. Vielleicht erhofften sie sich damit einen gewissen Schutz. Viele Menschen haben versucht durch derartige Täuschungen ihrem Schicksal zu entgehen. Warum nicht auch Charlotte und Ihre Mutter? Diese Option beruhigt mich. Und nach allen Unterlagen, die mir zur Verfügung stehen, zu urteilen, gab es nicht mal einen Hauch des Zweifels, dass die Familie nicht jüdisch war. Ich will aber trotzdem der Sache nachgehen, allein schon wegen der Bestätigung der Täuschungsthese. Also ab zu der erste Adresse – Archiv der Evangelischen Kirche. Der nette Pfarrer erklärt mir, dass das Archiv schon längst woanders ist und zwar im Regionalkirchenamt
Dresden, in der Kreuzstraße 7.
Mittlerweile regnet es, aber ich bin gut gerüstet für alle Fälle, deshalb macht es mir nichts aus. Ich marschiere zu der neuen Adresse. Viel Zeit bleibt mir nicht, ich muss jede Minute für die Recherche nutzen.
Verschlossene Türen und Klingelanlagen schüchtern mich nicht mehr ein, ein Versuch ist es wert- das habe ich während dieser Reise gelernt. Ich klingele und werde rein gelassen, muss aber leider erfahren, dass die zuständige Mitarbeiterin im Urlaub ist. Nichts zu machen. So wichtig ist die Information doch nicht. Ich bin derweil fest überzeugt, dass diese Taufgeschichte ein Rettungsversuch war. Ich mache eine Runde durch die Gegend, schließlich ist Dresden nicht zu verachten.
Am nächsten Tag habe ich wieder ein volles Programm, und so mache ich mich so früh wie möglich auf den Weg. Es regnet immer noch oder schon wieder. Es ist ein wenig ungemütlich. Ich habe aber keine Zeit zu verschenken, also nehme ich das Wetter wie es ist. Als erstes fahre ich zur Staatsbibliothek, in der Hoffnung dort das Buch der Erinnerungen zu finden. Vielleicht finde ich noch irgendwelche Hinweise, die mir weiter helfen. Leider ist dieser Versuch vergeblich. Der Archivar der Jüdischen Gemeinde hatte noch eine Idee, die mir eventuell weiterhelfen könnte und zwar die
Adressbücher aus den 1930er Jahren. Es entpuppt sich als eine wunderbare Idee. Danke an dieser Stelle an Herrn Hirt. Ich habe in diesen Büchern die letzte Wohnadresse vor der Flucht und die Geschäftsadresse gefunden. Außerdem habe ich rausgefunden, dass die
Grünestr. 4, die Adresse, die in der Geburtsurkunde von Charlotte steht, die Adresse ihrer Großeltern mütterlicherseits war. Meine Schlussfolgerung daraus ist, dass das junge Ehepaar finanziell nicht gut stand am Anfang der Ehe, deshalb wohnten sie zuerst bei den Eltern von Olga, die Mutter von Charlotte. Olga ist in Dresden geboren. Ihre Großeltern kamen einst aus Tschechien nach Dresden. Simon – der Vater von Charlotte, hingegen war ein Emigrant aus Polen, der mit 24 Jahren nach Deutschland kam um dort sein Glück zu suchen. Später, als die finanzielle Lage sich verbesserte, zogen sie um. Laut des Adressbuches von 1932 wohnte die Familie in der
Görlitzer Str. 35 I, direkt gegenüber von ihrem Uhrmacher- und Goldwarengeschäft, in der
Görlitzer Str. 30, in dem sie beide gearbeitet haben.
Gleich nach der Bibliothek fahre ich zur Grünen Straße. Ich muss sie gar nicht lange suchen, sie ist nicht weit vom Zwinger – eine feine Gegend. Vielleicht waren ja die Eltern von Olga vermögend? Das Haus mit der Nummer 4 finde ich nicht. Es existiert nicht mehr. Stattdessen steht dort ein Bürohaus. Ich laufe ein Stück weiter, will mir die Gegend einprägen. Zwei, drei Häuser weiter ist ein kleines, verwildertes Grundstück, einige Häuser sind Altbauten, die meisten aber wurden irgendwann nach dem Krieg gebaut. Da die Straße im Zentrum liegt, liegt die Vermutung nahe, dass die Gegend stark bombardiert wurde und viele Häuser zerstört wurden, so auch das Geburtshaus von Charlotte. Ich mache trotzdem einige Fotos von der Straße und der Gegend. Ich bin fast fertig mit meiner Suche hier in Dresden.
Die letzte Wohnadresse von Charlotte werde ich morgen aufsuchen.Für heute Nachmittag bin ich eine gewöhnliche Touristin, und mache das, was Touristen tun – ich kaufe mir ein Ticket für ein Sightseeing Bus und besichtige Dresden. Erst mal eine Runde fahren, die Geschichten über die Stadt anhören, dann, bei der nächsten Runde an den (für mich) interessanten Stellen aussteigen, diese besichtigen und wieder einsteigen und weiterfahren, bis es dunkel wird und ich mich müde und hungrig auf den Weg zum Hotel mache.
Am nächsten Tag, es ist der 1. September, setze ich mich in die Straßenbahn und fahre zur Charlottes letzter Wohnadresse. Die Gegend kommt mir irgendwie bekannt vor. Alte Häuser, meistens heruntergekommen und mit viel Graffiti beschmiert, fast an jeder Ecke kleine Läden mit dies und das, alles ist irgendwie ungepflegt, aber trotzdem mit gewissem Charme. Kurz gesagt, die Gegend könnte auch Kreuzberg in Berlin sein. Mir fallen viele feierlich angezogen Menschen auf, die mir entgegen kommen. Es sieht so aus, als ob sie zu einer Hochzeitsfeier gehen würden. Es sind viele kleine Kinder dabei, die auch sehr fein angezogen sind. Dann fällt mir auf, dass die Kinder voller Stolz Schultüten bei sich tragen. Eine Frau eilt an mir vorbei. Sie trägt eine weiße Bluse und einen schwarzen Rock. Sieht aus wie eine Lehrerin, schießt mir durch den Kopf und dann begreife ich: es ist der 1. September und die Kinder werden eingeschult. In der Sowjet Union war der 1. September der erste Schultag nach den großen Ferien, bestimmt auch so in der DDR und diese Tradition haben die Neuen Länder wahrscheinlich beibehalten.
Ein anderer Gedanke kommt mir in den Kopf:
Charlotte. Bestimmt ist sie auch in diese Schule gegangen. Es ist ja gar nicht so weit von ihrem Zuhause. Ich versuche, mir Charlotte als kleines unbeschwertes Mädchen mit einem Schulranzen vorzustellen, wie sie zusammen mit ihren Freundinnen zur Schule eilt oder nach der Schule nach Hause läuft. Es ist mir kaum möglich. All die Zustände in ihrem Leben, die ich bis jetzt in Erfahrung gebracht habe, erschweren mir die Vorstellung von einem fröhlichen Kind. Derweil stehe ich vor dem Haus in dem Charlotte mit ihren Eltern wohnte. Es scheint, dass die Straße die Bomben gut überstanden hat, wie auch das Haus. Die Fassade des Vorderhauses ist aber trotzdem ziemlich heruntergekommen, genau wie die anderen Häuser in der Straße auch. Man sieht, dass hier lange nichts gemacht wurde. Die Tür steht offen und ich gehe durch bis zum Hof. Es ist ein ganz kleiner Hof, ohne Bäume, ohne Blumen, ganz nüchtern. Das Hinterhaus sieht schon viel besser aus – es ist frisch renoviert, passt gar nicht in das Gesamtbild.
Ob Charlotte im Vorder- oder im Hinterhaus gewohnt hat? Wer weiß das schon. Das Geschäft der Eltern ist genau gegenüber von dem Wohnhaus. Es sieht noch schlimmer aus, als das Haus in dem sie wohnten. Im Untergeschoss des Hauses ist ein verlassener Laden. Ich schaue durch die dreckige Fensterscheibe rein: kaputte Möbel, die übereinander gestapelt sind, Staub und Spinnweben. Hier hat schon lange keiner etwas verkauft. In meiner Fantasie stelle ich mir vor, dass nachdem die Hermanns das Land fluchtartig verlassen mussten, ein Fluch auf diesem Laden lag. Niemand hatte hier je mehr Glück, so zu sagen Charlottes kleine Rache.
Irgendwie ist es eine Genugtuung für mich.
Ich bin hier fertig. Heute Abend fahre ich nach Berlin zurück.
Rachel Shneiderman, geboren 1951 in Taschkent, ehemalige UDSSR. Vor 40 Jahren ausgewandert, zuerst nach Israel und 1978 nach West-Berlin. Im Rahmen ihrer Tätigkeit als Gemeindeschwester bei der Jüdischen Gemeinde zu Berlin hat sie sich jahrelang um Charlotte gekümmert.
Lesen Sie hier auch den 1. Teil von Rachel Shneidermanns und Charlotte Hermanns Geschichte: Charlotte Hermann. Ein Leben auf der Suche nach Liebe und GeborgenheitDas Projekt "Jüdische Frauengeschichte(n) in Berlin - Writing Girls - Journalismus in den Neuen Medien" wurde ermöglich durch eine
Kooperation der Stiftung ZURÜCKGEBEN, Stiftung zur Förderung jüdischer Frauen in Kunst und Wissenschaft
und der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ)
Weitere Informationen finden Sie unter:www.stiftung-zurueckgeben.dewww.stiftung-evz.de© Rachel Shneiderman